6. FUNK.TAG in Kassel am 27.04.2024

Medikamenten-Notruf 1958 (Schwäbische Landeszeitung)

Wettlauf mit dem Tode

Amateurfunker und Presse suchen fieberhaft ein Serum

Deutsch-polnische Aktion zur Rettung eines schwerkranken Patienten - Flugzeug bringt Blutplasma von Berlin nach Bromberg

Augsburg. Ein dramatischer Wettlauf mit dem Tode begann in der Nacht zum Freitag in Burgau und kurz darauf in Augsburg und Westberlin, um einen in Lebensgefahr schwebenden polnischen Patienten in einem Bromberger Krankenhaus zu retten. Am Freitagabend hatte ein polnischer Amateurfunker Hilferufe nach einem unbekannten Medikament ausgesandt. Der Funkspruch wurde in Westberlin und der Bundesrepublik aufgefangen, jedoch konnte das Medikament nicht sofort beschafft werden, weil es unter der angegebenen Bezeichnung "Serum Pulv. LAG Nr. 4 S pro Infusione Intravenosa" unbekannt war. Erst mehrere telefonische Berliner Rückfragen bei dem Leiter der Inneren Abteilung des Bromberger Krankenhauses, Dr. Rekowski, ergaben, daß dringend eineinhalb Liter Blutplasma benötigt wurden.

Mit als erster Helfer hatte den Notruf aus Polen der Funkamateur Georg Weidmann (DJ 2 QF) aus Burgau im schwäbischen Kreis Günzburg aufgefangen. Weidmann war am vergangenen Freitag schon zu Bett gegangen, hatte aber sein kleines Funkgerät noch eingschaltet und vernahm nach 22 Uhr einen schwachen SOS-Ruf. Um besser empfangen und antworten zu können, eilte er in seine Werkstätte und schaltete die fragliche Welle auf seinem größeren Gerät ein. Ein polnischer Amateurfunker bat über den Aether unentwegt um das erwähnte Serum an die Adresse: Znin, Postbox 13, Polen. Der polnische Anmateur war von einem Apotheker um die Verbreitung des Hilferufes gebeten worden, da der Patient nur noch vier bis fünf Tage zu leben habe, wenn das Serum - ein Nierenpräparat, wie es in dem Notruf hieß - nicht umgehend beschafft werden könne. Georg Weidmann lief zur nächsten Apotheke, konnte das Serum dort jedoch nicht erhalten. Nun wandte er sich an den Burgauer Mitarbeiter der "Schwäbischen Landeszeitung", der sich sofort mit unserer Zentral-Redaktion in Augsburg in Verbindung setzte. Spät in der Nacht ließ die Redaktion der "Schwäbischen Landeszeitung" unverzüglich ihre Nachrichtenmittel spielen und schaltete sich in die fieberhafte Suche nach dem Serum ein. Von Augsburg aus ging der Hilferuf über das Münchener Büro der Deutschen Presseagentur (dpa) an die deutschen Tageszeitungen weiter.

Das Serum für den todkranken Polen war weder in Augsburg noch in München, wo mehrere große Apotheken und das zentrale Arzneimittellager angerufen wurden, zu haben. Auch das Bayerische Rote Kreuz in Augsburg und München sowie US-Dienststellen bemühten sich um das benötigte Serum. Georg Weidmann aus Burgau alarmierte mit seinem Funkgerät auch Schweizer Freunde. Es war bereits Samstagmittag, als sich bei Weidmann nacheinander zwei Berliner Funkamateure und einer aus Hessen mit der Erfolgsnachricht meldeten, daß das Serum in Berlin aufgetrieben worden sei. Georg Weidmann war glücklich. Schon vor zwei Jahren hatte er aus Polen einen ähnlichen Notruf aufgefangen und sofort sein Rettungswerk begonnen. Er erhielt damals ein Diplom des Polnischen Amateurfunkverbandes. Bei der Rettungsaktion vom letzten Wochenende war Weidmann mit dem Funkamateur Manfred Laun in Raunheim bei Rüsselsheim in Hessen und zwei Berliner Funkamateuren in Verbindung getreten. So wurde die Funkverbindung mit Polen bs zum Ende der Rettungsaktion aufrechterhalten.

In der Nacht zum Sonntag standen in Westberlin ununterbrochen zwei Funkamateure mit dem polnischen Funkamateur und ein Journalist mit Dr. Rekowski in Verbindung. Das Deutsche Rote Kreuz Westberlins beschaffte in den Nachtstunden in einer Sonderaktion das schwer erhältliche Blutplasma. Westberliner Funkwagen brachten aus verschiedenen Krankenhäusern das Blutplasma zum DRK. Von dort wurde es sofort mit einem Kraftwagen des DRK zur Grenze zwischen dem Ostsektor und der Sowjetzone in der Nähe des Flugplatzes Schönefeld gebracht. Ein Wagen der polnischen Botschaft in Ostberlin beförderte dann das Medikament vom sowjetzonalen Grenzkontrollpunkt zum Flugplatz Schönefeld, von wo es gestern um neun Uhr vormittags mit einer polnischen Militärmaschine nach Warschau geflogen wurde. In einem weiteren Ferngespräch erklärte Dr. Rekowski, eine andere polnische Militärmaschine sei von Bromberg nach Warschau unterwegs, um das Blutplasma abzuholen. Der Arzt drückte seine Zuversicht aus, daß es gelingen werde, den in Lebensgefahr schwebenden polnischen Patienten noch am Sonntagnachmittag zu retten.

dpa/jdg

Schwäbische Landeszeitung, 15.12.1958
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